Zwölfte Sitzung: Fazit
- justinvollmann
- 10. Feb. 2022
- 4 Min. Lesezeit

Ich möchte mein Fazit mit drei Punkten beginnen, die in der Vorlesung nur gestreift werden konnten (1). Es folgt ein kondensierter Überblick über die Charakteristika der in der Vorlesung untersuchten mittelalterlichen und popkulturellen Formate (2), bevor ich abschließend auf den titelgebenden Begriff der Unfestigkeit zu sprechen komme (3).
1. Medien, Struktur und Inhalt, Politik
Festhalten möchte ich erstens das dialektische Verhältnis der modernen Medien zum Mittelalter. Die modernen Medien sorgen einerseits für kommunikative Verhältnisse, die denjenigen des Mittelalters gar nicht so unähnlich sind. Andererseits suchen wir im Mittelalter vielleicht gerade eine Art Präsenz, die uns in unserer zunehmend durchmedialisierten Welt abhandenzukommen droht. Die Vorlesung hat sich auf den ersten dieser beiden Aspekte konzentriert, will aber den zweiten keineswegs in Abrede stellen. Mittelaltersehnsucht wäre demnach so etwas wie eine durch die modernen Medien geförderte Flucht vor den modernen Medien.
Zu fragen wäre zweitens nach dem Verhältnis zwischen den strukturellen und den inhaltlichen Affinitäten zwischen mittelalterlichen und popkulturellen Formaten. Obwohl sich die Vorlesung auf die strukturellen Aspekte konzentriert hat, ist ja nicht zu übersehen, dass die betreffenden popkulturellen Formate häufig genug auch inhaltlich-thematische Anleihen beim Mittelalter machen (Stichwort neomedievalism). Es stellt sich die Frage, ob es sich hierbei um reinen Zufall handelt oder ob ein tieferer Zusammenhang zwischen Struktur und Inhalt besteht.
Hier hilft vielleicht der Hinweis weiter – und das wäre mein dritter Punkt –, dass neomedievalism nicht nur ein kulturwissenschaftlicher, sondern auch ein politikwissenschaftlicher Terminus ist, der den Fokus auf Gemeinsamkeiten zwischen den politischen Ordnungen des europäischen Hochmittelalters und der globalisierten Welt legt (Stichwort z.B. ‚Neofeudalismus‘). Die besagten Mittelalteranleihen könnten dann als „ferner Spiegel“ (Tuchman 1982 [1978]) für Entwicklungen fungieren, die ohne die modernen Medien als Motor der Globalisierung gar nicht möglich wären.
2. Erzählen außerhalb der „Gutenberg-Galaxis“
Nicht nur die strukturellen, auch die inhaltlichen Affinitäten popkultureller Formate zu mittelalterlichen Formaten wären damit ursächlich mit dem Siegeszug der neuen Medien in Verbindung zu bringen. Die Vorlesung hat sich, wie gesagt, auf die strukturellen Aspekte konzentriert, wobei sich im Vergleich mit der Gutenberg-Galaxis die folgenden Punkte als konstitutiv erwiesen haben:
Innerhalb der Gutenberg-Galaxis dient das Werk der Kommunikation des Produzenten mit dem Rezipienten: „Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde“, schreibt Jean Paul (Jean Paul 1930 [1797], S. 471). Außerhalb der Gutenberg-Galaxis dagegen öffnet das Werk ein Fenster (oder eine Tür) zu einem Erzähluniversum, dem Produzenten wie auch Rezipienten dienen.
Typisch ist hierbei die Kollektivität von Produktion und Rezeption sowie die Nivellierung der Unterschiede zwischen beiden Positionen in einer Praxis des beständigen Wieder-, Weiter- und Anderserzählens, einer Praxis, in der die Produktion immer schon Rezeption ist und die Rezeption immer wieder in Produktion umschlägt.
Je mehr Werke nun aber den Blick auf ein und dasselbe Erzähluniversum freigeben, desto weniger ist dieses an ein einzelnes Werk gebunden. Und je schwächer die Bindung an ein einzelnes Werk, desto autonomer erscheint das Erzähluniversum mitsamt den darin angesiedelten Figuren, die nun fast schon den Status von realen Personen annehmen.
Gilt die Bewunderung des Rezipienten innerhalb der Gutenberg-Galaxis primär dem Autor, so gilt sie außerhalb der Gutenberg-Galaxis primär den Figuren, die im Zweifelsfall auch gegen ihre eigenen Autoren in Schutz genommen werden müssen. Diese Bewunderung kann so weit gehen, dass der Rezipient persönlich in die Rolle dieser oder jener Figur schlüpft.
Ausgefeilte Visualisierungsstrategien tun ihr Übriges, um den Rezipienten in ein Erzähluniversum hineinzuziehen, durch welches er sich nach Art eines Rezitators, eines Redaktors oder auch einfach eines (inter-)aktiven Rezipienten frei genug bewegen kann, um zum Produzenten seiner eigenen Geschichte zu avancieren.
Insbesondere im Bereich der Lyrik, aber auch der Epik, ist zudem der Fall nicht auszuschließen, dass die Produzenten selbst zu Stars aufsteigen, deren Ruhm dann aber, stärker als derjenige des Autors in der Gutenberg-Galaxis, an die Prinzipien der Performativität, der Authentizität und der Agonalität gebunden ist.
3. Unfeste Formate
Es lassen sich nach dem bisher Gesagten mindestens drei Ebenen der Unfestigkeit voneinander unterscheiden:
Unfest sind erstens die Erzähluniversen, die sich aus diversen Einzelwerken speisen, die wiederum – wie in einer Kultur des Wieder-, Weiter- und Anderserzählens kaum anders zu erwarten – nicht nur in ihrer Schwerpunktsetzung, sondern auch in konkreten Details, ja sogar im Hinblick auf größere Handlungszusammenhänge oft erheblich voneinander abweichen.
Unfest sind zweitens die Werke selbst, die nicht etwa durch den Buchdruck ein für alle Mal schriftlich fixiert sind, sondern in fluideren – mündlichkeitsnahen bzw. digitalen – Aggregatzuständen vorliegen, die grundsätzlich einen größeren Variationsspielraum – bis hin zur Hinzufügung, Vertauschung oder Ersetzung ganzer Episoden – bieten.
Beides kann übrigens auch auf die Lyrik übertragen werden. Einem unfesten Erzähluniversum entspräche hier z.B. die Gattung des Minnesangs, die einen relativ begrenzten Vorrat an Motiven immer wieder neu zusammensetzt. Als unfeste Werke ließen sich dagegen die oftmals extrem variant überlieferten Minnelieder selbst bezeichnen.
Unfest sind drittens, zumindest gegenüber der Gutenberg-Galaxis, die Positionen des Produzenten, des Rezipienten und der Figur. Nicht nur ist in einer Kultur des Wieder-, Weiter- und Anderserzählens der Produzent prinzipiell auch Rezipient und umgekehrt, vielmehr wird der Rezipient hier selbst zum Eintritt in das Erzähluniversum animiert.
Erzähluniversen, Einzelwerke, narrative Instanzen: Auf allen drei Ebenen hat die Vorlesung das „Lob der Unfestigkeit“ (Formulierung in Anlehnung an Cerquiglini 1989) gesungen. Es ist aber zu betonen, dass der Fokus dabei durchweg auf solchen Formaten lag, die man (heute zumindest) dem Bereich der Kunst zuordnen würde.
Wenn Unfestigkeit hier auch als Chance begriffen werden kann, so heißt das doch noch lange nicht, dass sie das auch in anderen Bereichen ist: Modulhandbücher, die im nächsten Semester schon wieder veraltet sind; Passierscheine, deren Ablaufdatum sich über Nacht verändert; hektisch upgedatete Verordnungen, die dazu führen, dass man im Dickicht der verschiedenen Versionen vorsichtshalber alles für verboten hält, was nicht ausdrücklich erlaubt ist – all das sind Beispiele für die Kehrseiten einer Unfestigkeit, die auch vor Politik und Recht nicht haltmacht.
Damit schließt sich der Kreis zu den oben erwähnten politischen Aspekten des neomedievalism. Und es stellt sich dann schon die Frage, ob nicht die „unfesten Formate“ der Post-Gutenberg-Galaxis in asymmetrischen Kommunikationsverhältnissen das Potenzial dazu haben, neofeudale Herrschaftspraktiken zu begünstigen. Das gilt zumindest außerhalb des engeren Bereichs der Kunst, deren „unfeste Formate“ solche Gefahren dann vielleicht auch reflektieren können.
Literatur
Cerquiglini, Bernard: Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie, Paris 1989. [Engl. Übers.: In praise of the variant. A critical history of philology, Baltimore, London 1999.]
Jean Paul: Der Jubelsenior (1797), in: Jean Pauls Sämtliche Werke, Bd. I,5, hg. v. Eduard Berend, Weimar 1930, S. 387-530.
Tuchman, Barbara: Der ferne Spiegel. Das dramatische 14. Jahrhundert, ungekürzte Ausgabe, München 1982 (engl. Orig. 1978).


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