Elfte Sitzung: Ludonarrative Grenzgänge
- justinvollmann
- 21. Jan. 2022
- 3 Min. Lesezeit

Lässt sich der Spieler eines Computerspiels eventuell nicht nur mit dem Rezitator bzw. Redaktor (vgl. dazu die zehnte Sitzung), sondern auch mit dem ganz normalen Rezipienten einer mittelalterlichen Erzählung vergleichen? Und zwar nicht nur mit einem „interaktiven“ Rezipienten, der in einer mündlichen Erzählsituation durch Signale an den Rezitator wie z.B. Gefallens- oder Missfallensbekundungen den Gang der Handlung „steuert“. Sondern auch mit einem lediglich „aktiven“ Rezipienten, der Leerstellen auf die eine oder andere Weise füllt, Ambiguitäten in die eine oder andere Richtung hin auflöst usw. und der damit – ganz im Sinne rezeptionsästhetischer Ansätze – die Erzählung im Akt des Rezipierens allererst und immer wieder neu hervorbringt?
Für einen entsprechenden Vergleich wird man am besten auf solche Erzählungen zurückgreifen, die die Aktivität des Rezipienten besonders herausfordern – möglicherweise sogar in Form sich anschließender Diskussionen, für die sich insbesondere die Gattung des Märe anzubieten scheint. Mären sind einerseits kurz und überschaubar genug, um eine gemeinsame Textbasis zu garantieren, andererseits aber auch komplex genug, um ganz unterschiedliche Deutungen zuzulassen. Sie ermöglichen damit in idealer Weise dasjenige, was Niklas Luhmann, bezogen auf Kunst im Allgemeinen, als „Liberalisierung des Urteils bei festgehaltenem Dingbezug“ (Luhmann 1997, S. 124) bezeichnet hat.
Ein Indiz dafür, dass mittelalterliche Kurzgeschichten tatsächlich im geselligen Rahmen vorgetragen und diskutiert worden sind, liefern Giovanni Boccaccios Decamerone (Mitte 14. Jhd.) und Geoffrey Chaucers Canterbury Tales (Ende 14. Jhd.), die die betreffenden Erzählungen in entsprechende Rahmenhandlungen (geselliges Erzählen während der Pest bzw. auf einer Pilgerfahrt) einbetten. Auch die offene Frage nach der rechtmäßigen Besitzerin des Hellers am Ende von Heinrich Kaufringers Drei listigen Frauen lässt sich gut als Aufforderung zu einer entsprechenden Diskussion interpretieren.
Silvan Wagner hat vorgeschlagen, Mären als „Grenzphänomen“ (Wagner 2018, Titel des betreffenden Sammelbandes) zu verstehen in dem Sinn, dass sie im Rahmen der höfischen Literatur die Unterscheidung ‚höfisch vs. nicht-höfisch‘ ins Zentrum rücken und damit für einen Einschluss des sonst weitgehend Ausgeschlossenen (eben des Nicht-Höfischen) sorgen – also ein klassisches re-entry der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene (Wagner 2018, bes. S. 24-27). Indem nun aber Mären solchermaßen auf einer Grenze basieren, haben sie sozusagen an beiden Seiten gleichzeitig teil, und genau daraus ergibt sich zu einem Gutteil ihre Komplexität und Ambiguität.
So könnte im Fall von Aristoteles und Phyllis ein erster Rezipient darauf beharren, die Geschichte sei, ganz im Sinne des Epimythions, ein warnendes Beispiel für Weiberlist. Ein zweiter Rezipient könnte darauf hinweisen, dass besagtes Epimythion ja lediglich aus der Sicht des gedemütigten Aristoteles hervorgehe und dass diese Demütigung insofern gerechtfertigt sei, als Aristoteles gegenüber dem höfischen Pärchen Alexander und Phyllis die klassische Antagonisten-Rolle des Minnefeindes einnehme (vgl. etwa die huotaere, d.h. die Aufpasser, im Minnesang). Ein dritter Rezipient schließlich könnte die Meinung vertreten, es gehe hier gar nicht um Parteinahme, sondern gerade um das Ausstellen der Spannungen zwischen einem durch das Modell der höfischen Liebe geprägten laikal-volkssprachigen und einem tendenziell misogynen gelehrt-lateinischen Diskurs (vgl. Rasmussen 2015).
Was aber hat das alles mit Computerspielen zu tun? Die Gemeinsamkeit wäre m. E. in der engen Verbindung von Spieler- bzw. Rezipientenentscheidungen mit dem Einschluss des sonst Ausgeschlossenen (vor allem extreme Formen von Gewalt und Begehren) und der Frage nach der moralischen Bewertung zu sehen. Mit Stortz 2019 denke ich dabei vor allem an solche Computerspiele, bei denen entsprechende Spielerentscheidungen (z.B. Einsatz vs. Nicht-Einsatz moralisch fragwürdiger Gewalt) den Spielverlauf nicht nur punktuell, sondern auch langfristig beeinflussen, womöglich gar zu unterschiedlichen Enden führen. In Anlehnung an die Game Studies einerseits, die zwischen narrativen (vom Spiel festgelegten) und ludischen (in das Belieben des Spielers gestellten) Elementen unterscheiden, und Wagners „Grenzbetrachtungen“ (Wagner 2018, Titel des Aufsatzes) andererseits könnte man hier von ludonarrativen Grenzgängen sprechen.
Der Vergleich mag einerseits ein wenig hinken, da die Rezipientenentscheidungen im Fall von Texten zwar die moralische Bewertung, eventuell auch die den Figuren zu unterstellenden Motivationen (Aristoteles als eifersüchtiger Minnefeind oder als gewissenhafter Lehrer?), nicht aber den tatsächlichen Handlungsverlauf zu beeinflussen vermögen. Andererseits macht er darauf aufmerksam, dass auch der Rezipient literarischer Werke keineswegs zur Passivität verdammt ist. Das gilt natürlich prinzipiell nicht nur fürs Mittelalter. Es dürfte aber einleuchten, dass die einsame Lektüre dicker Romane eher zur selbstvergessenen Immersion einlädt als das gesellige Erzählen „grenzwertiger“ Kurzgeschichten.
Literatur
Grubmüller, Klaus (Hg./Übers.): Novellistik des Mittelalters. Märendichtung, Frankfurt/M. 1996.
Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997.
Rasmussen, Ann Marie: Problematizing Medieval Misogyny. Aristotle and Phyllis in the German Tardition, in: Verstellung und Betrug im Mittelalter und in der mittelalterlichen Literatur, Göttingen 2015, S. 195-220
Stortz, Laura: „It’s time to beat the mind game“. Ludisches Erzählen und das Spiel mit der Moral, in: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung, München 2019. https://www.paidia.de/its-time-to-beat-the-mind-game-ludisches-erzaehlen-und-das-spiel-mit-der-moral/ (Zugriff am 21. 01. 2022)
Wagner, Silvan: Grenzbetrachtungen. Paradoxie, Beobachtung und Sinn in Mären, in: Mären als Grenzphänomen, hg. v. Silvan Wagner, Berlin 2018, S. 13-40.


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