Neunte Sitzung: Unfester Text und digitale Edition
- justinvollmann
- 17. Dez. 2021
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In dieser Sitzung ging es um den Minnesang als Variationskunst – und damit als „unfestes Format“. Die allgemeine – sprachliche wie überlieferungsgeschichtliche – Unfestigkeit mittelalterlicher Texte ist Gegenstand eines Nachtrags, der anhand der verlinkten Online-Ausgabe LDM die Affinität zwischen mittelalterlichem und digitalem Textbegriff herauszuarbeiten versucht.
„Die zentrale Kategorie des Minnesangs ist nicht Innovation, sondern Variation. Die Dichter sind nicht darum bemüht, Bekanntes in Neues zu überführen, sondern darum, Bekanntes neu zu formulieren und anders zu präsentieren“ (Marquardt 2017, S. 15). Das erinnert an das epische Prinzip des Wiedererzählens (vgl. die vierte Sitzung) und lässt sich vielleicht ganz gut in Anlehnung an die Fanfiction-Kategorien canon, canon compliant und canon divergent (vgl. die fünfte Sitzung) beschreiben. Die entsprechenden Ausführungen beziehen sich auf die folgende Lied-Auswahl (Seitenzahlen verweisen auf die Ausgabe Klein 2010; wenn möglich wurde außerdem auf die Online-Ausgabe LDM verlinkt):
1. Der von Kürenberg: Ich stuont nehten spâte ('Zinnenwechsel'), S. 101. LDM, Str. II u. X
2. Der von Kürenberg: Ich zôch mir einen valken ('Falkenlied'), S. 13. LDM, Str. VI u. VII
3. Dietmar von Eist: Slâfest dû, friedel ziere?, S. 58. LDM
4. Dietmar von Eist: Ûf der linden obene, S. 103. LDM, Str. IV u. V
5. Bernger von Horheim: Mir ist alle zît, als ich fliegende var ('Lügenlied'), S. 65. LDM
6. Albrecht von Johansdorf: Guote liute, holt, S. 109.
7. Hartmann von Aue: Maniger grüezet mich alsô ('Unmutslied'), S. 222.
8. Heinrich von Morungen: Ich hôrte ûf der heide, S. 77.
9. Heinrich von Morungen: Leitlîche blicke und grôzlîche riuwe, S. 156. LDM
10. Heinrich von Morungen: Owê, sol aber mir iemer mê ('Tageliedwechsel'), S. 204.
11. Reinmar: Lieber bote, nû wirbe alsô, S. 115.
12. Walther von der Vogelweide: Lange swîgen, des hât ich gedâht ('Sumerlaten-Lied'), S. 255.
13. Walther von der Vogelweide: Under der linden ('Lindenlied'), S. 212.
14. Wolfram von Eschenbach: Sîne klâwen, S. 128. LDM
15. Neidhart: Ein altiu diu begunde springen, S. 131.
16. Steinmar: Ein kneht, der lag verborgen ('Tageliedparodie'), S. 224.
17. Steinmar: Sît si mir niht lônen wil ('Herbstlied'), S. 226.
Canon:
Die dominante Gattung des Minnesangs ist diejenige des Lieds der Hohen Minne. Dieses ist formal durch die Kanzonenstrophe, inhaltlich durch die unerfüllte, aber anhaltende Liebe eines Mannes zu einer mehr oder weniger abweisenden Dame und kommunikationssituativ durch den Monolog des liebenden männlichen Ichs gekennzeichnet (zu weiteren Charakteristika vgl. die siebte Sitzung).
Canon compliant:
Abgesehen davon, dass bereits die Kanzonenstrophe ein „unfestes Format“ darstellt, das pro Lied ganz unterschiedlich realisiert werden kann, bietet die Gattung auch auf inhaltlicher Ebene zahlreiche Variationsmöglichkeiten, so etwa durch die lügnerische Verkehrung des eigenen Leids in Freude (5), durch ausgeprägte Gewaltphantasien (8, 12) oder durch die selbstbewusste Betonung des künstlerischen Aspekts (9).
Canon divergent:
Darüber hinaus wird die Gattung des Lieds der Hohen Minne durch weitere Spielarten und Gattungen flankiert, die sich in mindestens einem (oft auch in mehreren) der drei genannten Aspekte von ihr unterscheiden, sie aber (mit Ausnahme der Frühphase des Minnesangs) als Bezugspunkt weiterhin voraussetzen:
Form: Die Frühphase des Minnesangs kennt noch keine Kanzonenstrophen. Es dominieren nibelungenliedartige Strophen aus Langzeilen mit Binnenzäsur (1, 2, 4) bzw. einfache, vom Paarreim beherrschte Strophenformen (3). Auch nach allgemeiner Übernahme der Kanzonenstrophe aus der Romania sind andere Strophenfomen noch möglich (7, 15).
Inhalt: In der Frühphase des Minnesangs begegnet eine Vielzahl von Liebeskonzepten, wobei die Geschlechterrollen gegenüber dem Konzept der Hohen Minne tendenziell umgekehrt verteilt (1, 4) oder auch sehr vage gehalten sein können (2). Dass das Konzept der Hohen Minne auch später keine Ausschließlichkeit für sich beanspruchen kann, zeigt allein schon Walthers berühmtes 'Lindenlied' (13). Alternative Konzepte verfestigen sich außerdem zu den Untergattungen des Tagelieds (3, 10, 14, 16), des Kreuzlieds (6) und des Absagelieds (7, 17). Zu nennen ist hier auch die Einführung der dörper-Thematik durch Neidhart (15, vgl. auch 16).
Kommunikationssituation: Alternativ zum Monolog des männlichen Ichs begegnen Frauenlieder (11, 13) sowie Lieder mit mindestens zwei Sprechenden, die entweder miteinander (Dialoglied: 3, 14, 15) oder getrennt voneinander über dasselbe Thema (Wechsel: 1, 4, 6, 10) sprechen. Je nach Hinzutreten dritter – sprechender oder auch nur angesprochener – Personen spricht man außerdem vom Botenlied (11) und – als einer Unterform des Tagelieds – vom Wächterlied (14).
Nachtrag
Dank ihres dynamischen Textbegriffs wird die oben verlinkte Online-Ausgabe LDM der grundsätzlichen Unfestigkeit mittelalterlicher Texte in besonderer Weise gerecht. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen einer sprachlichen und einer überlieferungsgeschichtlichen Unfestigkeit, die beide mit der relativen Nähe der mittelalterlichen Manuskriptkultur zur Mündlichkeit zusammenhängen.
Sprachlich unfest sind mhd. Texte insofern, als es zwar gewisse Tendenzen zu einer überregional verständlichen mhd. Dichtersprache gibt, die aber von einem Standarddeutsch im heutigen Sinn noch weit entfernt ist. Entscheidend vorangetrieben wird die Entstehung eines solchen Standarddeutschs durch die zunehmende Umstellung der Kommunikation von Mündlichkeit auf Schriftlichkeit und vollends dann durch das Medium des Buchdrucks (vgl. den enormen Einfluss der Bibelübersetzung Martin Luthers, der seinerseits auf die Sächsische Kanzleisprache zurückgreift).
Der LDM-Benutzer kann sich den mhd. Text in diversen „Aggregatzuständen“ anzeigen lassen, die vom Handschriftenscan (roter Reiter) über die Transkription bis hin zum normalisierten Text (Einstellungen am linken Bildschirmrand) reichen. Der dynamische Textbegriff der digitalen Edition, die auf das gleichberechtigte Nebeneinander verschiedener vom Benutzer allererst zu wählender Ansichten setzt, wird der sprachlichen Unfestigkeit mhd. Texte weit besser gerecht als eine Ausgabe, die den Text in einer (und nur einer) festen Gestalt darbietet.
Überlieferungsgeschichtlich unfest sind mhd. Texte insofern, als sie häufig in sehr unterschiedlichen Fassungen vorliegen, die nicht zuletzt als Reflex einer mündlichen Vortragspraxis zu werten sind. Das Lied Leitlîche blicke etwa ist in Handschrift C (dem berühmten Codex Manesse) vierstrophig unter dem Namen Morungens, in B dagegen zweistrophig unter dem Namen Dietmars von Aist überliefert. Diese Varianz der Überlieferung betrifft häufig nicht nur die Zuschreibung und den Bestand, sondern auch die Reihenfolge der Strophen, außerdem macht sie auch vor dem Wortlaut nicht Halt.
Der LDM-Benutzer kann nicht nur alle Fassungen „ein und desselben“ Liedes einsehen (Kästchen oben links sowie Link rechts neben den Strophen), sondern auch über Strophen- und Textsynopsen die Fassungen direkt miteinander vergleichen (gelber und hellgrüner Reiter). Auch hier erlaubt der dynamische Textbegriff des digitalen Mediums ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Informationen, die in einer herkömmlichen Ausgabe nach dem Muster von Text und Apparat hierarchisch angeordnet werden müssten.
Literatur
Klein, Dorothea (Hg., Übers.): Minnesang. Mittelhochdeutsche Liebeslieder. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, Stuttgart 2010.
LDM = Manuel Braun, Sonja Glauch, Florian Kragl (Hgg.): Lyrik des deutschen Mittelalters, 2012-[2021], Online-Ressource: http://www.ldm-digital.de (Zugriff am 17. 12. 2021).
Marquardt, Tristan: Unmögliche Liebe. Eine kurze Einführung in den Minnesang, in: Unmögliche Liebe. Die Kunst des Minnesangs in neuen Übertragungen, hg. v. Tristan Marquardt u. Jan Wagner, München 2017, S. 11-22.


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