Zehnte Sitzung: Quests im virtuellen Raum
- justinvollmann
- 15. Jan. 2022
- 4 Min. Lesezeit

Kollektivität von Produktion und Rezeption, Visualität, mythische Teilhabe (Film); der Rezipient als Autor (Fanfiction), der Rezipient als Figur (LARP, Cosplay); Performativität, Authentizität, Agonalität (Hiphop) – all das begegnet auch im Computerspiel: hier ein Heer von Programmierern, dort ein Heer von Fans, im Zentrum das Spiel als Teil eines Franchise; der Spieler als passiver Rezipient der Spielwelt, als aktiver Autor je individueller Spieldurchgänge, als über seinen Avatar ins Spielgeschehen involvierter Protagonist; der Spieler schließlich als um Authentizität bemühter, agonal agierender Performer (besonders deutlich in Let’s Plays).
All diese Elemente sind in den betreffenden Sitzungen bereits auf ihre Mittelalteraffinität hin untersucht worden. Entsprechend könnte man den Spieler mit dem visualitätsorientierten mittelalterlichen Rezipienten, mit dem sich seinen Weg durch die materia bahnenden mittelalterlichen Wiedererzähler, aber auch mit dem in vorgegebene Rollen schlüpfenden Turnierritter à la Ulrich von Liechtenstein vergleichen, während der Let’s Player im performativen Einbezug seiner eigenen Person ein wenig an den mittelalterlichen Minnesänger oder Sangspruchdichter erinnern mag.
Mit anderen Worten: Die „Gutenberg-galaktisch“ geprägte Unterscheidung zwischen den Instanzen des (aktiven) Autors, des (fiktionalen) Erzählers, der (ebenfalls fiktionalen) Figur und des (vergleichsweise passiven) Rezipienten besitzt in den unfesteren Formaten des Mittelalters und der Popkultur eine nur sehr eingeschränkte Gültigkeit. Man kann sie zwar heuristisch zugrunde legen, wird dann aber auch auf dieser Ebene ein höheres Maß an Unfestigkeit, an Fluidität zu konstatieren haben.
Ein wichtiger Aspekt, durch den sich das Computerspiel von den bisher betrachteten Formaten unterscheidet, soll im Folgenden genauer in den Blick genommen und auf seine Mittelalteraffinität hin befragt werden: der Aspekt der Virtualität, des virtuellen Raums, des Cyberspace. Versteht man darunter im engeren Sinn eine täuschend echte Simulation (Beispiel: Matrix), dann wird man im Mittelalter kaum fündig werden. Versteht man darunter in einem weiteren Sinn z. B. das „Surfen“ im Internet, dann stellt sich die Frage, ob nicht auch schon die erzählten Welten der „Gutenberg-Galaxis“ als virtuelle Räume zu gelten haben.
Zur Spezifizierung möchte ich hier das Kriterium der Handlungsfreiheit starkmachen. Entscheidend wäre demnach nicht, ob der virtuelle Raum nun technisch simuliert oder „nur“ von einem Rezipienten imaginiert ist, sondern ob es sich um einen Möglichkeitsraum handelt, in dem ich so, aber auch anders agieren kann. Während ich z.B. in Romanen oder Filmen weitgehend vorgebahnten Pfaden folge, kann ich mich in der Matrix bzw. im Internet – und eben auch im Computerspiel – vergleichsweise frei bewegen, so dass Letzteren ein höherer Grad an Virtualität zuzusprechen wäre als Ersteren.
Was das Mittelalter angeht, könnte man hier ein weiteres Mal an den Wiedererzähler denken, der sich seinen eigenen Weg durch den bereits vorhandenen Stoff bahnt. Man könnte aber auch an einen Rezitator bzw. an einen Redaktor denken, die sich beide ihren eigenen Weg durch den bereits vorhandenen Text bahnen: Ersterer, indem er ihn mündlich vorträgt und dabei an die Vortragssituation (z. B. Publikumswünsche, eigene Gestimmtheit) anpasst, Letzterer, indem er ihn – aus welchen Gründen und mit welcher Tendenz auch immer – schriftlich überarbeitet. In der Tat dürfen der Rezitator und der Redaktor als Hauptverantwortliche für die überlieferungsgeschichtliche Unfestigkeit mittelalterlicher Texte gelten (vgl. dazu die neunte Sitzung).
Als Beispiel, in dem die Unfestigkeit der Überlieferung unmittelbar auf die Handlungsebene durchschlägt, soll hier die Wöchnerinnen-Episode des Wolfdietrich, eines heldenepischen Texts aus dem 13./14. Jahrhundert, angeführt werden. Hinzuzufügen ist an dieser Stelle, dass heldenepische Texte, die oft eine lange mündliche Vorgeschichte haben und durch keinen Verfassernamen „autorisiert“ sind, in aller Regel eine sehr viel unfestere Überlieferung aufweisen als der stärker mit einer Autorinstanz – z.B. Hartmann, Wolfram, Gottfried – verknüpfte höfische Roman. Für den Wolfdietrich gilt das ganz besonders (vgl. dazu auch schon die erste Sitzung). Der Inhalt der Wöchnerinnen-Episode lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Der Held begegnet im Wald einer Dame, die gerade dabei ist, einen Knaben zu gebären, bzw. diesen bereits geboren hat. Er bietet sich als Hebamme bzw. Amme an, was die Dame schamhaft ablehnt. In seinem Helm schafft Wolfdietrich Wasser herbei, und von hier ab unterscheiden sich die Versionen gravierend voneinander: Wolfdietrich erquickt die Dame mit dem Wasser, um anschließend sie und den Knaben in die Obhut eines Bauern zu geben, dem er aufträgt, das Kind auf den Namen seines (Wolfdietrichs) Vater zu taufen (Hauptversion A). Neustart: Als Wolfdietrich vom Wasserholen zurückkommt, ist die Dame tot; Wolfdietrich tauft den Knaben und gräbt der Dame mit seinem Schwert ein Grab; währenddessen stirbt auch der Knabe, den Wolfdietrich zu seiner Mutter ins Grab legt (Hauptversion B). Neustart: Als Wolfdietrich vom Wasserholen zurückkommt, sind sowohl die Dame als auch der Knabe tot; Wolfdietrich führt Klage vor Gott über das Schicksal des ungetauft verstorbenen Knaben, bevor er Mutter und Kind mit seinem Schwert ein Grab bereitet (Hauptversion D).
Fast hat es den Anschein, als seien hier unterschiedliche Spielverläufe durchgespielt worden, um nicht zuletzt die Handlungsspielräume des Helden auszuloten: Im ersten Fall kann dieser sich schemagerecht als Retter von Witwen und Waisen bewähren (hier wie auch in Hauptversion D begegnet Wolfdietrich zunächst dem getöteten Ehegatten der Dame, von dem in Hauptversion B gar keine Rede ist). Im zweiten Fall kann er immerhin noch das Seelenheil des Knaben retten. Im dritten Fall dagegen kann er nur noch die Theodizee-Frage stellen. Gerade vor dem Hintergrund der prinzipiell möglichen (virtuellen) Spieldurchgänge gewinnt der jeweils aktuelle Spieldurchgang sein unverwechselbares Profil.
Literatur
Amelung, Arthur u. Oskar Jänicke (Hgg.): Ortnit und die Wolfdietriche. 2 Bde., Berlin 1871/73. Wöchnerinnen-Episode: A, Str. 562-578; B, Str. 842-848; D VIII, Str. 51-75.
Ascher, Franziska: Erzählen im Imperativ. Zur strukturellen Agonalität von Rollenspielen und mittelhochdeutschen Epen, Bielefeld 2021.
Ascher, Franziska u. Thomas Müller (Hgg.): Vom Wigalois zum Witcher. Mediävistische Zugänge zum Computerspiel, in: PAIDIA – Zeitschrift für Computerspielforschung, München 2018. http://www.paidia.de/sonderausgaben/sonderausgabe-mediaevistische-zugaenge-zum-computerspiel/ (Zugriff am 15. 01. 2022).
Coxon, Sebastian: verbint mir mîniu ougen und lâz mich sîn bî dir. Der Held als Hebamme im Wolfdietrich, in: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997, hg. v. Alan Robertshaw u. Gerhard Wolf, Tübingen 1999, S. 189-200.


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