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Über den Wolken

Zweite Sitzung: Vorwärts in die Vergangenheit?

  • justinvollmann
  • 25. Nov. 2021
  • 3 Min. Lesezeit

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Will man mittelalterliche und popkulturelle Formate miteinander vergleichen, dann stellt sich natürlich zunächst einmal die Frage, inwiefern ein solcher Vergleich überhaupt sinnvoll ist. Entsprechend ging es in dieser Sitzung zunächst einmal darum, die theoretischen Hintergründe eines solchen Vergleichs zu reflektieren.


Nun hatten wir uns schon in der ersten Sitzung über die wichtige Rolle der modernen Medien für die besagten popkulturellen Formate unterhalten. Es schien deshalb sinnvoll, bei der Frage nach dem Verhältnis dieser modernen Medien zum Mittelalter anzusetzen. Hier haben wir, wiederum anknüpfend an die Diskussion der ersten Sitzung, zwei alternative Thesen voneinander unterschieden, die sich an den Namen Gumbrecht und McLuhan festmachen lassen.


Gumbrecht vertritt die These, dass uns die modernen Medien immer mehr von der „Präsenzkultur“ des Mittelalters wegführen. Das Mittelalter erscheint dann als das (positiv gewendet) Alteritäre, wie wir es z.B. auf Mittelaltermärkten suchen: ein Ort der Unmittelbarkeit, der einen authentischen, nicht schon medial verstellten Wirklichkeitsbezug ermöglicht.


Dagegen vertritt McLuhan die These, dass speziell die modernen elektronischen Medien einen präsenzkulturellen Schub bewirken, der uns wieder näher an das Mittelalter heranrückt (vgl. etwa das in der ersten Sitzung angeführte Beispiel der durch spontane Live-Streamings erzeugten „Lagerfeueratmosphäre“). Hierbei erscheint nun tendenziell die „Gutenberg-Galaxis“ (so nennt McLuhan das Zeitalter des Buchdrucks, dem wir zunehmend entwachsen) als das (nun eher negativ gewendet) Alteritäre.


Als weiterer Begriff, der sowohl bei Gumbrecht als auch bei McLuhan eine wichtige Rolle spielt, kam nun der Mythos ins Spiel. Folgt man Gumbrecht, dann ist der Mythos heutzutage bestenfalls ein präsenzkultureller Fremdkörper (= Alterität), der als eine Art special effect in unsere heutige Bedeutungskultur hineinragt.


Folgt man dagegen McLuhan, so bereitet der durch die modernen Medien erzeugte präsenzkulturelle Schub gleichzeitig auch wieder den Boden für (moderne) Mythen. Haben wir es also mit einer Wiederkehr des Mythos unter modernen medialen Voraussetzungen zu tun? Sind die Jedi-Ritter (Star Wars) die legitimen Nachfolger der Ritter der Tafelrunde (Artusroman)? In diese Richtung zielt die These der Vorlesung, und in diese Richtung zielt auch der Titel der Sitzung „Vorwärts in die Vergangenheit?“.


Hier erweist sich der US-amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell (1904-1987) als wichtige Schnittstelle, der nicht nur den Artusmythos gründlich studiert hat (so bereits in seiner 1927 entstandenen Masterarbeit), sondern mit seinem Modell der „Heldenreise“ (bestehend aus zwölf typischen Stationen, die freilich nicht immer alle realisiert sein müssen) auch ein wichtiger Ideengeber für George Lucas‘ Star Wars und überhaupt für Hollywood etc. gewesen ist.


Jetzt wäre weiter zu fragen, was eigentlich einen Mythos ausmacht. Allein die „Heldenreise“ kann es nicht sein, denn diese läge ja laut Campbell so ziemlich jeder Geschichte zugrunde, und sicher ist nicht jede Geschichten deswegen auch schon ein Mythos. Ich würde mindestens zwei weitere Faktoren geltend machen:

1. Mythen sind Geschichten, die bevorzugt von Göttern und/oder Helden handeln (inhaltliche Bestimmung).

2. Mythen sind Geschichten, die tief im kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft verankert sind (funktionale Bestimmung).

Beides kann man, glaube ich, sowohl für den Artusroman als auch für Star Wars behaupten. Hinzu kommt noch dasjenige, was der Philosoph Hans Blumenberg als „Arbeit am Mythos“ bezeichnet hat: Es handelt sich um Geschichten, die nicht in Stein gemeißelt sind, sondern ständig wieder-, weiter- und umerzählt werden – um unfeste Formate also.


Literatur:

  • Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979.

  • Campbell, Joseph: Der Heros in tausend Gestalten (1949), Frankfurt a. M. 1999.

  • Gumbrecht, Hans Ulrich: Präsenz-Spuren. Über Gebärden in der Mythographie und die Zeitresistenz des Mythos, in: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Udo Friedrich u. Bruno Quast, Berlin, New York 2004, S. 1-15.

  • McLuhan, Marshall: Mythos und Massenmedien (1959), in: Texte zur modernen Mythentheorie, hg. v. Wilfried Barner u.a., Stuttgart 2003, S. 117-134.

  • Vollmann, Justin: Rezension zu Christian Kiening: Fülle und Mangel. Medialität im Mittelalter, Zürich 2016, in: Weimarer Beiträge 64 (2018), S. 304-307.

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