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Über den Wolken

Vierte Sitzung: The Cathedral of the Motion Picture

  • justinvollmann
  • 25. Nov. 2021
  • 4 Min. Lesezeit

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Als The Cathedral of the Motion Picture wurde seinerzeit das New Yorker Roxy Theater, ein im Jahr 1927 eröffnetes, an die 6000 Personen fassendes Kinogebäude, bezeichnet. Ziel der ebenso betitelten Sitzung war es, den Affinitäten zwischen dem Medium des Films und der mittelalterlichen Kathedrale bzw. der mittelalterlichen Literatur nachzugehen.


Ansetzen lässt sich bei dem frühen Filmtheoretiker Béla Balázs, der seinerseits an den französischen Schriftsteller Victor Hugo anknüpft: Die Baukunst, die im Mittelalter alle Künste zusammengehalten habe (vgl. vor allem das Paradigma der Kathedrale), werde in der Neuzeit durch die Buchdruckkunst als neues Leitmedium ersetzt, wodurch es zu einer Zersplitterung der Künste komme (Hugo 1831). Demgegenüber bringe der Film, der heutzutage als neues Leitmedium das gedruckte Buch ersetze, eine Rückkehr zur mittelalterlichen Einheit der Künste, aber auch zur Einheit von Körper und Geist, die im Zeitalter des Buchdrucks zu Gunsten des Geistes aufgegeben worden sei (Balázs 1924).


Bei dieser Parallelisierung von modernem Film und mittelalterlicher Kathedrale spielen vor allem zwei Punkte eine Rolle: erstens die Visualität, die laut Balázs das entscheidende Mittel zum Einbezug des Sinnlich-Körperlichen darstellt; und zweitens – so bei weiteren Filmtheoretikern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. dazu Bildhauer 2009) – die Kollektivität von Rezeption (Messe, Filmvorführung), aber auch schon Produktion.


Beide Punkte – Kollektivität und Visualität – spielen nun auch für die mittelalterliche Literatur eine große Rolle. Und im Fall des Jüngeren Titurel (samt zugehörigem Verfasserfragment), der mir in der Vorlesung als Beispiel gedient hat, werden interessanterweise beide Punkte ausdrücklich mit dem Paradigma der Kathedrale in Verbindung gebracht, so dass der Anschluss an die frühe Filmtheorie umso leichter fällt.


1) Kollektivität:


Hier ging es mir weniger um die Kollektivität der Rezeption, wie sie sich aus einer oralen bzw. semiliteralen Erzählsituation ergibt, in der nicht etwa der Leser mit seinem Buch allein ist, sondern ein Publikum einem Rezitator lauscht. Vielmehr ging es mir um die Kollektivität der Produktion, wie sie sich aus der mittelalterlichen Kultur des Wieder- und Weitererzählens ergibt (grundlegend dazu Worstbrock 1999).


Ein gutes Beispiel ist hier der Jüngere Titurel, dessen „Baugeschichte“ sich in vier Schritten darstellen lässt: 1) Um 1190 verfasst Chrétien de Troyes seinen Perceval, der unvollendet bleibt; 2) die Chrétien’sche Vorlage wieder- und (nach vorne wie hinten) weitererzählend verfasst Wolfram von Eschenbach um 1200/10 seinen Parzival; 3) eine Nebenhandlung seines eigenen Parzival aufgreifend, verfasst Wolfram außerdem die so genannten Titurel-Fragmente (zwei skizzenhafte Episoden über die Geschichte von Sigune und Schionatulander); 4) um die beiden Titurel-Fragmente herum und im ausgiebigen Rücktgriff auf den Parzival verfasst ein gewisser Albrecht um 1270 den so genannten Jüngeren Titurel, eine breit angelegte Geschichte des Gralsgeschlechts mit Fokus auf der Geschichte von Sigune und Schionatulander.


Im so genannten Verfasserfragment, einem Widmungsgedicht mit Selbstrechtfertigungscharakter, vergleicht Albrecht die Entstehung des Jüngeren Titurel mit dem Bau des Markusdoms in Venedig: Nachdem die Riege der ersten Meister gestorben gewesen sei, habe man sich neue Meister gesucht, um den Bau zu vollenden, da es nicht klug sei, sich in Ermangelung des Besseren (= Vollendeten) mit dem Minderen (= Unvollendeten) zufriedenzugeben (Str. 2f.). Ebenso sei es geboten, auch Wolframs Werk nach dessen Vorbild zu vollenden (Str. 4f.).


2) Visualität:


Sehr viel stärker als die Kultur des Buchdruckzeitalters setzt die Kultur des Mittelalters auf die Interaktion zwischen persönlich Anwesenden, auf sichtbare Zeichen wie z.B. Wappen, auf Rituale (vgl. etwa Wolframs Beschreibung der Gralszeremonie im Parzival) und damit immer auch auf Visualität. Diese „Kultur der Visualität im Mittelalter“ (Wenzel 2009) findet ihren Niederschlag nicht zuletzt in der mittelalterlichen Literatur, die überreich ist an ausführlichen, die Imagination des Rezipienten anregenden Beschreibungen.


Die umfangreichste dieser Beschreibungen, zumindest im Rahmen der mhd. Literatur, liefert Albrecht in seinem Jüngeren Titurel mit der Beschreibung des Gralstempels, eines gotisch anmutenden Baus, der mit seinem künstlichen Himmelgewölbe, dem künstlichen Meer und dem mit künstlichen Vögeln besetzten Orgelbaum ein weitgehend automatisiertes Abbild des Kosmos liefert. Wie nicht zuletzt der in der Messe eingesetzte Taubenmechanismus (Str. 352f.) zeigt, kann dieser Gralstempel in der Tat als eine Cathedral of the Motion Picture bezeichnet werden.


3) Teilhabe:


Ein weiterer Punkt, der in der Diskussion starkgemacht wurde, war dasjenige, was man als mythische „Teilhabe“ bezeichnen könnte. Wie jede einzelne Kirche am übergeordneten Glaubenssystem teilhat, zu dessen Geschichten etc. sie quasi ein Fenster aufmacht, so haben zwar bei weitem nicht alle, aber doch viele neuere Filme an einem übergeordneten Erzähluniversum teil (paradigmatisch: Marvel), das auch ohne sie zu existieren scheint. Entsprechendes gilt auch schon für die Gattung des Artusromans, dessen Vertreter immer dieselbe erzählte Welt fortschreiben.


Literatur:

  • Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (erstmals erschienen 1924), Frankfurt/M. 2001.

  • Bildhauer, Bettina: Forward into the past. Film theory’s foundation in medievalism, in: Anke Bernau u. Bettina Bildhauer (Hgg.): Medieval Film, Manchester, New York 2009, S. 40-59.

  • Brokmann, Steffen: Die Beschreibung des Graltempels in Albrechts Jüngerem Titurel, Diss. Bochum 1999, Online-Ressource: https://d-nb.info/978070062/34, hier S. 53-90 (Übersetzung der Gralstempelbeschreibung).

  • Hugo, Victor: Der Glöckner von Notre-Dame (frz. Orig. erstmals erschienen 1831), Frankfurt/M., Leipzig 2001, hier S. 229-241 (Buch 5, Kap. 2: „Dieses wird jenes töten“).

  • Kiening, Christian: Fülle und Mangel. Medialität im Mittelalter, Zürich 2016, hier S. 359-362 (zu Hugo), 364f. (zu Balázs) u. 366f. (zu McLuhan).

  • Lorenz, Andrea: Der Jüngere Titurel als Wolfram-Fortsetzung. Eine Reise zum Mittelpunkt des Werks, Bern u.a. 2002, hier S. 68-72 (Übersetzung des ‚Verfasserfragments‘).

  • Vollmann, Justin: Drei Stoffe, ein Pfropfreis und drei Zweige. Eine Einleitung, in: Rolf Vollmann: Frauenkatalog 1200, in zehn Bildern, Berlin 2020, S. 5-15.

  • Wenzel, Horst: Spiegelungen. Zur Kultur der Visualität im Mittelalter, Berlin 2009, bes. Kap. 6: „Der Leser als ‚Augenzeuge‘. Kinästhetische und kinematographische Wahrnehmung“.

  • Worstbrock, Franz Josef: Wiedererzählen und Übersetzen, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. v. Walter Haug, Tübingen 1999, S. 128-142.

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