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Über den Wolken

So You’re A Variant: Multiversales Erzählen in Loki und in der Krone

  • justinvollmann
  • 21. Juni 2022
  • 3 Min. Lesezeit

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Wo sich verschiedene Autoren, womöglich gar in verschiedenen Medien (Comic, Film, Computerspiel, Fanfiction), an „ein und demselben“ Erzähluniversum abarbeiten, da gibt es zwangsläufig verschiedene Varianten, sei es „ein und derselben“ Geschichte oder auch „ein und derselben“ Figur. Man kann die so entstehenden Alternativuniversen einfach nebeneinander stehenlassen, sie der Ordnung halber vielleicht noch in kanonische und nicht-kanonische Universen unterteilen. Man kann aber auch versuchen, sie in ein übergeordnetes Erzähluniversum, ein Multiversum, zu integrieren. In einem solchen Multiversum können dann gewisse Ereignisse (z.B. Störungen der Alltagsroutine) zu Abzweigungen vom wahren Zeitstrahl und damit zu alternativen Zeitlinien führen.


Das Konzept des Multiversums ist also im Grund nichts anderes als die Spiegelung der medial bedingten Varianz des Erzählens auf die Ebene der erzählten Welt. Soll heißen: Wo in der wirklichen Welt verschiedene Autoren Verschiedenes fabulieren, da sind in der erzählten Welt der Held und seine Varianten in verschiedenen Zeitlinien unterwegs. Und es kann dann durchaus passieren, dass der zeitreisende Held auf seine eigene Variante trifft, ja diese womöglich, wie in der Serie Loki, durch Raum und Zeit verfolgt. So als würde man, um ein Beispiel aus dem Mittelalter zu nehmen, den höfischen Siegfried der zweiten Aventüre des Nibelungenlieds auf den mythischen Siegfried ansetzen, wie er uns aus der Erzählung Hagens in der dritten Aventüre des Nibelungenlieds entgegentritt. Oder so ähnlich.


Obwohl es nun aber für das Mittelalter durchaus als Normalfall anzusehen ist, dass sich verschiedene Autoren an „ein und demselben“ Erzähluniversum (z.B. dem des Artusromans) abarbeiten, so dass zahlreiche Varianten „ein und derselben“ Geschichte bzw. „ein und derselben“ Figur existieren, hat das mittelalterliche Erzählen seltsamerweise keine Multiversen à la Loki hervorgebracht. Vielleicht musste sich dafür zunächst einmal die (gutenberggalaktisch induzierte?) Idee einer streng linear verlaufenden Zeit herausbilden, vor deren Hintergrund der besagte Variantenreichtum überhaupt erst zum Problem werden konnte – einem Problem, dessen sich in Loki dann mit einiger Vehemenz die Hüter des Wahren Zeitstrahls (Agenten einer fernen Gutenberggalaxis?) annehmen.

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Zeithüter und Gutenberg: Zufällige Ähnlichkeit? Collage: Marcel Hinz


Oder gibt es doch auch schon im Mittelalter Ansätze zu einem erzählten Multiversum? In der Krone Heinrichs von dem Türlin trifft der Held Gawein auf einen Ritter namens Gasoein, der gerade im Begriff ist, die Königin Ginover zu vergwaltigen. Es kommt zu einem langen Kampf, dessen Ausgang (Sieg Gaweins und Niederlage Gasoeins) von den bis zur Ohnmacht entkräfteten Kontrahenten lediglich geträumt wird. Am Ende muss Ginover, deren Sympathien während des gesamten Kampfs auffällig gleich verteilt sind, die mittlerweile unberittenen und überdies halbtoten Kämpfer auf ihrem eigenen Pferd an den Artushof transportieren, was von Keie mit den spöttischen Worten kommentiert wird, die Königin habe gleich zwei Ritter auf einmal besiegt.


Das Brisante: Für die Einführung Gasoeins, der sich aus einer launigen Rede Ginovers, die ihn noch über ihren Gatten Artus stellt, quasi überhaupt erst zu materialisieren scheint, greift Heinrich von dem Türlin auf eine altfranzösische Erzählung von der Kindheit Gaweins zurück, in welcher der von Ginover Gepriesene, sich dann wie aus dem Nichts Materialisierende kein anderer als Gawein selbst ist. D.h. in der erwähnten Vergewaltigungsszene trifft Gawein, der sich seinerseits gerade auf den intertextuellen Spuren Lancelots (als des traditionellen Befreiers der Königin Ginover) bewegt, sozusagen auf seine eigene, zum Vergewaltiger mutierte Variante – und besiegt mit ihr, so könnte man sagen, die begehrliche Seite, die dem Befreier Ginovers traditionell anhaftet.


Das mag zu sehr von Loki her gedacht sein, legt aber doch so etwas wie das multiversale Potenzial der Krone offen. Natürlich will der intertextuelle Bezug zur altfranzösischen Erzählung erst einmal erkannt sein. Und natürlich gibt es in der Krone keine Zeitportale, die dem Helden den Weg in eine alternative timeline ermöglichten. Wohl aber gibt es allegorisch-liminale Räume – die so genannten Wunderketten –, die das epische Raumzeitkontinuum gehörig in Frage stellen. Und es gibt die berüchtigten Zeitkreise, die sich daraus ergeben, dass Gawein sich im ersten Teil des Romans an Taten erinnert, die er erst im zweiten Teil vollbringen wird. Dass ein solcher Held dann auch mal seiner eigenen Variante begegnen kann, liegt auf der Hand.


Im Jahr 1986 veröffentlichte Bernard Cerquiglini sein „Lob der Variante“ („Éloge de la variante“). Er dachte dabei weder an die Krone noch an Loki, sondern argumentierte aus nüchtern-editionsphilologischer Sicht, dass die Variante – und zwar sowohl „längs“ zwischen repetitiven Elementen ein und desselben Textes als auch „quer“ zwischen verschiedenen Überlieferungszeugen dieses einen Textes – ein integraler Bestandteil mittelalterlicher Literatur sei, dem erst der Buchdruck ein Ende bereitet habe und der in modenen Editionen mittelalterlicher Texte wieder hinreichend sichtbar zu machen sei. Für Mediävisten zumindest könnte Loki ein willkommener Anlass sein, Cerquiglinis „Lob der Variante“ noch einmal neu in den Blick zu nehmen.

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