Der talentierte Pfaffe Amis
- justinvollmann
- 3. Juni 2022
- 2 Min. Lesezeit

Wie weit gehen wir als Zuschauer mit einem Verbrecher-Helden mit? Für seine ersten harmlosen Tricksereien bewundern wir ihn noch: den talentierten Mr. Ripley. Sein erster Mord? Ist im Affekt begangen, und das an einem ziemlichen Unsympathen – Protagonistenbonus! Dass er, in die Rolle des Ermordeten schlüpfend, die ihn umgebenden Frauen unglücklich macht – nicht schön, aber leider unvermeidlich! Sein zweiter Mord? Zwar diesmal kalkuliert, aber an einem noch größeren Unsympathen begangen als dem ersten – drücken wir nochmal ein Auge zu! Sein Mord an der Freundin des ersten Opfers? Zum Glück im letzten Augenblick durch einen netten Pianisten verhindert! Sein Mord an eben diesem netten Pianisten?
Spätestens hier hat der Film uns da, wo er will, nämlich an der moralischen Kandare. Werfen wir von hier aus einen Blick auf den Pfaffen Amis:
Wenn der Pfaffe Amis durch Betrug die eigene Haut rettet (Bischof-Episode) oder seine Betrügereien in den Dienst der Frauen stellt (Kirchweihpredigt-Episode) – kein Problem! Wenn er genüsslich die höfisch-männliche Elite vorführt (Bilder- und Kranken-Episode) – Grund zu intradiegetischer Bewunderung! Wenn er Bauern (Hahn-, Wahrsager-, Fisch-Episode), Landadlige (Tuch-Episode), Städter (Blinden&Lahmen-Episode) und Klostergeistliche (Messe-Episode) durch fingierte Wunder zu Ablass-Zahlungen bewegt, lässt sich zumindest noch darüber schmunzeln. Wenn aber der Pfaffe Amis in den beiden Konstantinopel-Episoden dafür sorgt, dass der betrogene Maurer und der betrogene Edelsteinhändler durch Dritte körperlich misshandelt werden?
Spätestens dann ist auch im mittelalterlichen Erzählen der Punkt erreicht, wo man sich fragen muss: Ist das noch akzeptabel?
Die Beantwortung dieser Frage hängt nicht zuletzt davon ab, ob man den Pfaffen Amis vor dem Gattungshintergrund des Märes oder des höfischen Romans betrachtet. Für das Märe formuliert Klaus Grubmüller die harte Regel: „Dem Klugen ist alles erlaubt, der Tor hat auch den Tod verdient“ (Grubmüller 1996, S. 343). Unter diesem Blickwinkel kämen der Maurer und der Edelsteinhändler noch halbwegs glimpflich davon. Der höfische Roman hingegen begünstigt einen empathischen Lektüremodus, demzufolge das Handeln des Pfaffen moralisch zu verurteilen wäre.
In ihrem Roman sei sie „showing the unequivocal triumph of evil over good, and rejoicing in it“, notiert Patricia Highsmith (Wilson 2003, S. 161). Dies käme dem von Grubmüller postulierten märenhaften Rezeptionsmodus nahe, während sich Anthony Minghella in seiner Verfilmung eher auf die Seite des höfischen Romans geschlagen hätte. Aber ob nun im Zeichen einer „narrative[n] Lust an der List“ (Warning 2003) oder im Zeichen moralischer Kritik – das Prinzip der kalkulierten Grenzüberschreitung haben beide Versionen miteinander und auch mit dem Pfaffen Amis gemein.
Literatur:
Grubmüller, Klaus: Der Tor und der Tod. Anmerkungen zur Gewalt in Märendichtung, in: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993, hg. v. Kurt Gärtner, Ingrid Kasten u. Frank Shaw, Tübingen 1996, S. 340-347
Warning, Rainer: Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im Tristan, in: Transgressionen. Literatur als Ethnographie, hg. v. Gerhard Neumann u. Rainer Warning, Freiburg i. Br. 2003, S. 175-212.
Wilson, Andrew: Beautiful Shadow. A Life of Patricia Highsmith, New York 2003.


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