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Über den Wolken

Siebte Sitzung: Minnesangs Realness

  • justinvollmann
  • 3. Dez. 2021
  • 6 Min. Lesezeit

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Diesmal bin ich von einem berühmten Lied Heinrichs von Morungen (MF 133,13: Leitlîche blicke) ausgegangen, an dem sich bei aller Besonderheit doch auch viel Minnesangtypisches zeigen lässt. Die Strophen III und IV spielen grundlegende Register des Lieds der Hohen Minne durch: Auf den Frauenpreis (III,1-5; IV,1-4) folgt im einen Fall eine zuversichtliche Minnewerbung (III,6f.), im anderen Fall eine vergleichsweise resignierte Minneklage (IV,5-7). Die Strophen I und II reflektieren zunächst die dilemmatischen Bedingungen eines solchen Singens: Die Minneklage weckt den Unmut des Publikums wie auch der Minnedame (I,1-4; II,5-7), so dass sich der Minnesänger zu einem beherzteren Gesang entschließt, der ihn dann aber dem Vorwurf aussetzt, sein Liebeskummer sei nicht echt (I,5-II,4).


Durchaus typisch für das Lied der Hohen Minne ist zunächst die Tatsache, dass es nicht einfach nur tut, was es tut (Str. III u. IV: preisen, werben, klagen), sondern auch die Bedingungen dieses Tuns reflektiert (Str. I u. II). Typisch ist weiter die Situierung des Lieds im Spannungsfeld zwischen den drei Instanzen Sänger, Dame und Publikum. Typisch ist schließlich das Zusammenspiel der drei Sprechakte ich singe (artistischer Aspekt), ich minne (emotionaler Aspekt) und ich wirbe (pragmatischer Aspekt). Untypisch ist allenfalls die Konsequenz, mit der sich der Sänger angesichts potentieller Kritik aus dem Publikum auf das ich singe als Letztbegründung zurückzieht (I,7: wan ich dur sanc bin ze der welte geborn).


Selbst dieser Rückzug auf das letztbegründende ich singe bedeutet nun aber keineswegs eine Autonomie der Kunst im modernen Sinn. Vielmehr sieht sich der Sänger ja durchaus genötigt, die Authentizität seiner Emotionen gegen den Vorwurf einer allzu großen Artifizialität seines Gesangs zu verteidigen. Die Sprechakte ich minne und ich singe bleiben also trotz ihres zeitweiligen Auseinandertretens auch hier so eng miteinander verkoppelt, dass man kaum von einem lyrischen Ich im modernen Sinn sprechen kann. Würde man einem solchen lyrischen Ich doch in der Regel nur den Inhalt (ich minne), nicht aber die Form (ich singe) zurechnen. So ließe sich ein formvollendetes Sonett denken, dessen lyrisches Ich ein kleines Kind ist, ohne dass man die Frage stellen würde, wie ein kleines Kind denn so ein formvollendetes Sonett dichten könne. Genau diese Frage stellt sich aber im Minnesang: Wie kann ein unglücklich Verliebter bloß so schöne Lieder singen/dichten?


Es liegt nahe, die Ausdifferenzierung eines vom Dichter mehr oder weniger strikt zu unterscheidenden lyrischen Ichs mit der zunehmenden Umstellung der Kommunikation von Mündlichkeit auf Schriftlichkeit und vollends mit der Erfindung des Buchdrucks in Verbindung zu bringen. Wer mit seinem Lyrikbändchen allein ist, hat niemanden, auf den er das Text-Ich zurechnen könnte, das folglich seine eigene, körperlos-geisterhafte Präsenz entfalten kann. Und in dem Maße, in dem die Dichter genau das ins Kalkül zu ziehen beginnen, arbeiten sie selbst der Abspaltung eines lyrischen Ichs von der Instanz des Autors zu. Eine solche Abspaltung dann aber bedenkenlos auf das Mittelalter zurückzuprojizieren, könnte zu interpretatorischen Missverständnissen führen.


An dieser Stelle ein kleiner Exkurs zur Forschungsgeschichte. Nachdem die Forschung des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts in dem verständlichen Bemühen, zunächst einmal möglichst viele biographische Daten über die Minnesänger zu sammeln, dazu tendiert hatte, alles in den Minneliedern Mitgeteilte für bare Münze zu nehmen (kontra lyrisches Ich), schlug das Pendel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die andere Richtung aus: Minnesang sei reine Rollenlyrik, hieß es nun (pro lyrisches Ich). Dagegen vertritt Haferland 2000 die Auffassung, Minnesang sei der direkte Ausdruck der individuellen Gefühle seiner Verfasser (kontra lyrisches Ich), während Müller 2010 (2004) darauf aufmerksam macht, dass die scharfe Gegenüberstellung von Rolle und Individuum insofern wenig hilfreich sei, als Letzteres im Mittelalter sehr viel stärker in Ersterer aufgehe als heute (Inklusionsidentität vs. heutiger Exklusionsidentität): „Es handelt sich um eine Sprechsituation, in der die Ich-Aussage der Rede zwar dem gerade vortragenden Ich zugerechnet werden könnte, aber nicht unbedingt zugerechnet werden muss, weil dieses Ich nie nur für sich selbst spricht“ (Müller 2010 [2004], S. 76f.).


Dem wäre entgegenzuhalten, dass eine solche Zurechnung bei Morungen durchaus stattfindet und dass Morungen den entsprechenden Vorwurf nicht etwa durch den Hinweis auf die bloße Exemplarität seines Sprechens, sondern auf die Authentizität seiner eigenen Gefühle kontert: der mac niht wizzen, waz mich leides twinget (II,3), was Kniep/Küchenmeister 2017 in ihrer Pop-Collage-Nachdichtung des Morungen-Liedes treffsicher wiedergeben mit „and they will never know I’m suffering from realness“ – der zweite Teil des Satzes („ich leide unter Echtheit“) ein Zitat des Rappers Kanye West. Treffsicher ist diese Wiedergabe deshalb, weil damit die bei Morungen aufgeworfene Authentizitätsfrage mit dem im Hiphop viel diskutierten Begriff der realness in Verbindung gebracht wird.


Was aber bedeutet realness bzw. authenticity im Hiphop? „McLeod [1999] defines authenticity in social-psychological, racial, political-economic, gender-sexual, social location, and cultural terms: being true to oneself, being 'authentically black,‘ supporting the underground vs. mainstream, promoting hyper-masculine behavior, identifying with 'the street,' and understanding the traditions and history of hip-hop culture“ (Williams 2007, S. 4, Anm. 12).


Hiervon können für den – unmarkiert-weißen, in höfischen Kreisen sich bewegenden, eher feminin als hypermaskulin auftretenden – Minnesänger allenfalls der sozialpsychologische und der kulturelle Aspekt (sich selbst treu bleiben, Verständnis der Traditionen und der Geschichte des Minnesangs) geltend gemacht werden. Es kommt aber auch gar nicht so sehr auf die konkreten Inhalte, sondern auf die Tatsache an, dass beide, der Minnesänger wie der Rapper, nicht nur nach der Qualität, sondern vor allem auch nach dem realness-Faktor ihres Gesangs, d.h. nach der Zurechenbarkeit der darin getätigten Aussagen auf die eigene Person, gemessen werden. Dies wäre kaum denkbar ohne die körperliche Präsenz des Sängers bzw. ihre visuelle Vermittlung durch die elektronischen Medien.


Natürlich kann man stilgeschichtlich auch weiter zurückgehen als bis zum Hiphop. Nachtragen möchte ich ein Lied von Shirley Bassey (geb. 1937, berühmt vor allem für den Titelsong des Bond-Klassikers Goldfinger), das in dreierlei Hinsicht zum Vergleich mit dem besprochenen Morungen-Lied einlädt. Hier zunächst das Video (mit vorausgeschicktem Refrain) und der Text:

I was born to sing forever


1.


When

The spotlight hits my face, I'm alive

The stage is where I'll always survive

The only place that I want to be


When

I hear the audience coming in

For me the magic starts to begin

And then I know they come to see me


When I hear the maestro strike up the band

And the drums begin to play

It's the only way that I understand

To live my life each day


Refrain:

I was born to sing forever

Born to sing for you

And as long as we're together

There's nothing else I want to do

I was born to sing forever

To me that's everything

And until the end of time

I know I'm born to sing

2.


When

The rhythm starts to beat in my brain

I sing a verse and then the refrain

And love to hear the sound of applause

When

The crowd appreciate what I do

I find that each performance is new

I go on singing, that is because

There are those who think I'm wasting my time

They say that's life's not just a song

But as long as there is music and rhyme

I know where I belong


Refrain:

I was born to sing forever

Born to sing for you

And as long as we're together

There's nothing else I want to do

I was born to sing forever

To me that's everything

And until the end of time

I know I'm born to sing


Nun zu den Morungen-Parallelen.


Erstens inhaltlich: Deutlich erkennbar dominiert hier das ich singe, in der ersten Hälfte des Refrains verschränkt mit dem ich minne. Deutlich erkennbar treten als Bezugsgrößen der Sängerin auch hier das Publikum und die geliebte Person in Erscheinung. Und auch hier erklärt die Sängerin programmatisch „I know I'm born to sing“.


Zweitens formal: Beide Lieder folgen der für den Minnesang (bis auf die ganz frühe Phase) typischen, für Popmusik aber doch eher ungewöhnlichen Kanzonenstrophe (ein aus zwei gleich gebauten Stollen bestehender Aufgesang, gefolgt von einem anders gebauten Abgesang, der im Übrigen auch einen Refrain enthalten kann). Bei Morungen: ab / ab // bab; bei Shirley Bassey: xaab / xccb // dede [Refrain:] fgfgfhxh. Bei Shirley Bassey kann man hören, dass die beiden gleich gebauten Stollen natürlich auch derselben Melodie folgen.


Drittens inhaltlich-formal: In beiden Liedern lässt sich eine weitgehende Übereinstimmung zwischen inhaltlichen und formalen Einheiten feststellen. Zu Morungen vgl. die einleitende Paraphrase mit den Versangaben, die die Verse der meisten Strophen in 1-4 (Aufgesang) und 5-7 (Abgesang) bündeln. Bei Shirley Bassey ist die erste Strophe dem Vorfeld des Auftritts (1. Stollen: Scheinwerfer; 2. Stollen: Publikumseinlass; Abgesang: Bandeinsatz), die zweite Strophe dagegen dem Auftritt selbst und den Reaktionen auf das Singen (1. Stollen: Auftritt und Applaus; 2. Stollen: Anerkennung; Abgesang: Ablehnung) gewidmet.


Literatur

  • Haferland, Harald: Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone, Berlin 2000.

  • Kniep, Matthias, mit Nadja Küchenmeister: Rock-Ola Capri II – Born To Sing, Live To Tell (nach Heinrich von Morungen), in: Unmögliche Liebe. Die Kunst des Minnesangs in neuen Übertragungen, hg. v. Tristan Marquardt u. Jan Wagner, München 2017, S. 61f.

  • McLeod, Kembrew: Authenticity Within Hip-Hop and Other Cultures Threatened with Assimilation, in: Journal of Communication 49 (1999), S. 134-150.

  • Müller, Jan-Dirk: Die Fiktion höfischer Liebe und die Fiktionalität des Minnesangs. Zum Verhältnis von Liedkunst und Lebenskunst (2004), in: Jan-Dirk Müller: Mediävistische Kulturwissenschaft. Ausgewählte Studien, Berlin, New York 2010, S. 65-82.

  • Williams, Jonathan D.: „Tha Realness“. In Search of Hip-Hop Authenticity, in: College Undergraduate Research Electronic Journal, 14. 12. 2007, https://repository.upenn.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1093&context=curej (Zugriff am 03. 12. 2021).

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