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Über den Wolken

Sechste Sitzung: Live Action Frauendienst

  • justinvollmann
  • 26. Nov. 2021
  • 3 Min. Lesezeit

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Ziel der Sitzung war es, den Affinitäten zwischen modernen und mittelalterlichen Formen des Rollenspiels mit Aufführungscharakter nachzugehen. An modernen Formaten standen hier vor allem Live Action Role Playing (selbst erstellte Figuren, narrativ) und Cosplay (bekannte Figuren, nicht narrativ) zur Debatte. Als mittelalterliches Beispiel dienten die Venusfahrt und – wenn auch nur ausblickartig – die Artusfahrt (bekannte Figuren, tendenziell narrativ), die der steirische Landespolitiker und Minnesänger Ulrich von Liechtenstein (ca. 1200 bis 1275) in seiner 1255 vollendeten (fiktiven?) Minnesänger-Autobiographie Frauendienst beschreibt. Das überwölbende Theoriekonzept war dasjenige der Performativität, verbunden mit der Hypothese, dass es sich beim Mittelalter und der Postmoderne weit eher um „Kulturen des Performativen“ handelt als bei der „Gutenberg-Galaxis“.


Im Konzept der Performativität vereinigen sich zwei Forschungsstränge miteinander: erstens ein sprachphilosophisch-linguistischer, der sich für den Vollzugscharakter von Sprache interessiert (z. B. „Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau“), zweitens ein kulturwissenschaftlicher, der den Fokus auf Aufführungen, Rituale und Feste – und hier gerade auch auf die Aspekte nonverbaler Kommunikation – legt. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Minnesang in diesem Sinn doppelt performativ ist: Er ist mit sprachlichen Mitteln vollzogene Werbung (sprachphilosophischer Aspekt), aber auch an festliche Anlässe gebundene Aufführungskunst (kulturwissenschaftlicher Aspekt).


Erzählende Literatur hat außerdem die Möglichkeit, nicht nur – wie Minnesang – performativ zu sein, sondern auch Performativität darzustellen, und genau das macht sich Ulrich von Liechtenstein in seinem Frauendienst zunutze, wobei wiederum beide Aspekte der Performativität zum Tragen kommen. Einerseits inseriert Ulrich die Texte seiner rund 60 Minnelieder an den jeweils passenden Stellen in seinen Roman. Andererseits berichtet er von überwiegend nonverbalen Happenings wie der Venusfahrt, durch welche nicht zuletzt die das Liedkorpus Ulrichs von Liechtenstein einleitende Miniatur der berühmten Manessischen Liederhandschrift inspiriert ist.


Diese Venusfahrt erinnert in mehrfacher Hinsicht an heutiges LARP bzw. Cosplay. Wie bei Letzterem verkleidet sich Ulrich überaus aufwändig (vgl. allein die Beschreibung Str. 487-489) in eine bekannte Figur, nämlich die Göttin Venus, deren mythologisch überlieferte Geburt aus dem Meer er nachspielt, indem er am 24. April 1227 bei Mestre dem Meer entsteigt, um anschließend in 29 Tagen von Norditalien über Österreich nach Böhmen zu ziehen, wo er acht Tage später ein großes Turnier veranstaltet. Ähnlich wie häufig beim LARP gibt es außerdem auch hier einen „Spielplan“, nämlich einen von einem Boten im Vorfeld der Venusfahrt verbreiteten Brief, der Route und Zeitplan der Frau Venus sowie die Regeln – insbesondere Belohnungen und Strafen – für unterwegs stattfindende Zweikämpfe (Tjosten) mit Frau Venus enthält (vgl. Str. 478f. sowie den im Anschluss inserierten Brief).


Es ist sicher kein Zufall, dass sowohl die Venusfahrt als auch die später folgende Artusfahrt (bei welcher übrigens nicht nur Ulrich die Rolle des Königs Artus einnimmt, sondern seine „Mitspieler“ auch in die Rollen verschiedener Ritter der Tafelrunde schlüpfen) Turnierfahrten sind, kann doch das Turnier geradezu paradigmatisch für die performative Kultur des Mittelalters stehen. Vom modernen Alltag, in dem wir ja auch häufig genug Rollen spielen (Beispiel Berufsleben), unterschiedet sich eine solche Kultur des Performativen durch den bewusst spielerischen Charakter (der freilich jederzeit auch „kippen“ kann). Von Theateraufführungen und dergleichen unterscheidet sie sich durch eine stärkere lebensweltliche Einbindung. Wichtig schien mir in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass hier nicht (nur) für Zuschauer etwas aufgeführt wird, sondern dass die Spieler es (vor allem) für sich selbst tun.


Verschwimmt bei der Fanfiction die Grenze zwischen Rezipient und Autor, so bei LARP und Cosplay diejenige zwischen Rezipient und Figur. Eine ähnliche Grenzüberschreitung begegnet bereits im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein. Sie ist Teil einer Kultur des Performativen, die etwa auch den Minnesang, um den es in der kommenden Sitzung gehen soll, erheblich von späterer Leselyrik unterscheidet.


Literatur:

  • Ulrich von Liechtenstein: Frauendienst, hg. v. Reinhold Bechstein, 2 Bde., Leipzig 1888.

  • Ulrich von Liechtenstein: Frauendienst, übers. v. Franz Viktor Spechtler, Klagenfurt 2000.

  • Vollmann, Justin: Performing Virtue. Zur Performativität der Krone Heinrichs von dem Türlin, in: PBB 130 (2008), S. 82-105, hier bes. Kap. 1-4.

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