Fünfte Sitzung: Headcanon und Ideenhimmel
- justinvollmann
- 25. Nov. 2021
- 3 Min. Lesezeit

Ziel der Sitzung war es, den Affinitäten zwischen moderner Fanfiction und mittelalterlichem Wieder-, Weiter- und Anderserzählen nachzugehen. Zunächst standen strukturelle Ähnlichkeiten zwischen dem Vorgehen der Fanfiction (1) und einer mittelalterlichen „Poetik des ‚Vervollständigens und Verbesserns‘“ (2) zur Debatte. Als mittelalterliches Beispiel diente dann die Krone Heinrichs von dem Türlin, die sich nicht nur als arthurische Fanfiction lesen lässt (3), sondern ihr Verhältnis zum arthurischen canon auch im Bild der Krone reflektiert (4). Abschließend versuche ich hier jetzt noch den Jüngeren Titurel mit einzubeziehen (5).
1) Für moderne Fanfiction ist zunächst festzuhalten, dass sie sich an einem canon, d.h. an der offiziellen Version einer Geschichte abarbeitet, die sie entweder vervollständigt – sei es durch Vorgeschichten (prequels), Fortsetzungen (sequels) oder angeblich fehlende Szenen (missing scenes) – oder verbessert (alternate universe, fix-it). Im Fall des bloßen Vervollständigens verhält sie sich canon compliant, im Fall des Verbesserns dagegen canon divergent. Insbesondere für diesen zweiten Fall wird dem offiziellen canon häufig ein lediglich in der Vorstellung der Fans existierender headcanon gegenübergestellt, nach dessen Maßgabe der canon dann „repariert“ wird.
2) Ansetzend an Chrétiens Prolog zu Erec et Enide rekonstruiert Haiko Wandhoff ganz ähnlich eine mittelalterliche „Poetik des ‚Vervollständigens und Verbesserns‘“. In Chrétiens Anspruch, die zerstückelten und verderbten Geschichten der professionellen Geschichtenerzähler in einer molt bele conjointure (sehr schönen Zusammenfügung/Komposition) zu integrieren, sieht Wandhoff die platonisch inspirierte Sehnsucht nach Wiederherstellung einer im ewigen „Ideenhimmel“ anzusiedelnden, durch die Verwerfungen der Zeitlichkeit jedoch zerstückelten und korrumpierten Schönheit am Werk. Dieser Ideenhimmel, an welchen der Mensch nach Platon noch eine vage Erinnerung in sich trägt, scheint nicht weit vom headcanon der Fanfiction entfernt zu sein.
3) In seinem wohl in den 1230er Jahren entstandenen Artusroman Die Krone unternimmt Heinrich von dem Türlin den Versuch, den arthurischen Musterritter Gawein die Abenteuer so ziemlich aller seiner klassischen Vorgänger erfolgreich bestehen zu lassen: Wie Erec und Iwein gewinnt er Frau und Landesherrschaft, um anschließend eine – zu allem Überfluss auch noch durch einen Minnetrank ausgelöste – Krise zu durchlaufen, die jedoch rasch überwunden ist; wie Lancelot befreit er die Königin Ginover aus den Händen eines Entführers; und wie Parzival stellt er nach einem ersten, erfolglosen Gralsbesuch am Ende dann doch noch die entscheidende Frage auf der Gralsburg.
4) Im Prolog und Epilog reflektiert Heinrich von dem Türlin sein Vorgehen im titelgebenden Bild der Krone. Diese Krone scheint im Prolog zunächst für das arthurische Erzähluniversum zu stehen, wobei der Autor in topischer Bescheidenheit nichts weiter begehrt, als mit seinem Roman als minderwertiger Edelstein neben höherwertigen Edelsteinen bestehen zu dürfen (V. 49-66). Im Epilog dagegen ist Heinrichs Roman, der ja in der Tat alle Vorgängerromane in sich einschließt, selbst die Krone, an der der selbstbewusste Autor nun kein minderwertiges Material mehr dulden will (V. 29915-29921). Von dieser Krone sagt Heinrich, er habe sie nach bestem Können aus einer Vorlage (dem canon?) so geschmiedet, wie er sie im Geist vor sich gesehen habe (V. 29969: als sie mîn sin vor ime vant) – ein Hinweis auf den platonischen Ideenhimmel bzw. auf den eigenen headcanon?
5) Mit Albrechts Jüngerem Titurel und der Krone Heinrichs von dem Türlin haben wir in dieser und der letzten Sitzung zwei der so genannten „nachklassischen“ Artus- bzw. Gralsromane in den Blick genommen, für die es typisch ist, sich nicht mehr, wie die „klassischen“ mhd. Artusromane, an einer einzigen Vorlage zu orientieren, sondern mehrere Vorlagen kunstvoll miteinander zu kombinieren. In der Terminologie der Fanfiction gesprochen, verfährt der Jüngere Titurel hierbei canon compliant, die Krone dagegen canon divergent, was in den unterschiedlichen Ausprägungen der poeta faber-Metapher gut zum Ausdruck kommt: hier die das Vorhandene lediglich erweiternde Baukunst, dort die das Vorhandene umformende Schmiedekunst.
Literatur:
Heinrich von dem Türlin: Diu Crône. Kritische mittelhochdeutsche Leseausgabe mit Erläuterungen, hg. v. Gudrun Felder, Berlin, Boston 2012.
Heinrich von dem Türlin: Die Krone. Ins Neuhochdeutsche übers. v. Florian Kragl, Berlin, Boston 2012.
Vollstedt, Thalia: Vergleichende Mediomythologie. Online-Mythen und ihre mediävistischen Dimensionen, in: Weimarer Beiträge 64 (2018), S. 542-565.
Wandhoff, Haiko: Vom Finden der Liebe in der Literatur. Die erzählte Poetik des höfischen Romans, Hamburg 2021, hier das Erec-Kapitel, Unterkapitel „Chrétiens de Troyes Erec et Enide und die Poetik des ‚Vervollständigens und Verbesserns‘“.


Was genau besagt die poeta faber-Metapher und wie unterscheidet sich der Begriff zu poeta doctus?
Wann spricht man denn von "klassischen" und ab wann von "nachklassischen" Artusromanen? Wo zieht man eine sinnvolle Grenze?