Erste Sitzung: Einführung
- justinvollmann
- 25. Nov. 2021
- 3 Min. Lesezeit

Ich habe das Thema der Vorlesung zunächst im Rückgriff auf mein Wolfdietrich-Seminar vom vergangenen Semester zu skizzieren versucht.
Der Wolfdietrich ist ein heldenepischer Text, der in drei bzw. vier so unterschiedlichen Hauptversionen vorliegt, dass man eigentlich auch gleich von drei bzw. vier verschiedenen Texten sprechen könnte. Es gibt zwar einen gemeinsamen Plot, aber Episodenbestand und Episodenfolge unterscheiden sich beträchtlich, außerdem kann auch „ein und dieselbe“ Episode von Version zu Version einen ganz unterschiedlichen Verlauf nehmen.
Im Seminar hat uns das an gewisse Computerspiele erinnert, in denen ebenfalls Quests übersprungen oder vorgezogen werden oder je nach Spielerentscheidung ganz unterschiedlich enden können, so dass also ein und dasselbe Spiel in ganz unterschiedlichen Spieldurchgängen realisiert werden kann. Außerdem wurde das Phänomen der Fanfiction angesprochen, die ebenfalls höchst unterschiedliche Versionen „ein und derselben“ Geschichte erzeugt. Das ist es, grob gesagt, was ich unter „unfesten Formaten“ zu fassen versuche.
Wie ist nun aber diese Unfestigkeit zu erklären? Gerade für die Heldenepik, deren Stoffe auf das heroic age der so genannten Völkerwanderungszeit (4.-6. Jhd.) zurückgehen, muss mit einer extrem langen Phase rein mündlicher Überlieferung gerechnet werden. Die Annahme liegt nahe, dass die betreffenden Geschichten im Verlauf dieser Zeit niemals ganz gleich erzählt wurden, vielmehr starken Veränderungen unterlagen.
Auch für das 13./14. Jahrhundert, in dem die schriftlich überlieferten Versionen des Wolfdietrich entstehen, wird man, zumindest was die Heldenepik angeht, noch mit einer stark mündlich geprägten, semi-oralen bzw. semi-literalen Erzähltradition zu rechnen haben: „Jede handschriftlich festgelegte Form ist nur ein zufälliger Querschnitt durch eine immer fließende Überlieferung“ formuliert, wenn auch skeptisch, de Vries 1965 (1958), S. 38.
Diese grundsätzliche Unfestigkeit der Überlieferung wird erst mit der Erfindung des Buchdrucks um ca. 1450 sozusagen stillgestellt, was sich für den Wolfdietrich an der Tatsache zeigen lässt, dass die insgesamt sechs im Zeitraum von 1479 bis 1590 erschienenen Ausgaben des Gedruckten Heldenbuchs sämtlich nur noch den Wolfdietrich D überliefern, während die übrigen Versionen allmählich in Vergessenheit geraten.
Nach gut 500 Jahren wird die Vorherrschaft der Printmedien heute zunehmend durch die elektronischen bzw. digitalen Medien in Frage gestellt, und einiges spricht dafür, dass wir es hier wieder mit zunehmend unfesteren Formaten zu tun bekommen (vgl. Computerspiel und Fanfiction), wie wir sie zwar nicht aus dem Druckzeitalter, wohl aber aus dem Mittelalter kennen. Das ist es, was ich primär unter „Wiederbegegnungen mit dem Mittelalter“ verstehe.
Die Diskussion nahm ihren Ausgang ebenfalls vom Titel der Veranstaltung, wobei die „unfesten Formate“ auf das Thema Medialität, die „Wiederbegegnungen mit dem Mittelalter“ dagegen auf das Thema Mittelalterrezeption führten.
1. Medialität:
Die Diskussion um die unfesten Formate war von inhaltlichen Spannungen geprägt: Steht die „Unfestigkeit“ digitaler Medien in einem Gegensatz zur „Festigkeit“ z.B. mittelalterlicher Burgen? Oder hat sie umgekehrt ihre Vorläufer in der „Unfestigkeit“ mündlicher bzw. mündlichkeitsnaher handschriftlicher Überlieferung? Verstellen die digitalen Medien eher den Weg zu einem Präsenzerlebnis, wie man es vielleicht auf Mittelaltermärkten suchen würde? Oder sind es gerade die digitalen Medien, die zu einer neuen „Lagerfeueratmosphäre“ beitragen? Was bei aller Gegensätzlichkeit der Positionen deutlich wurde, war jedenfalls die Schlüsselstellung, die der Medialität in dieser Debatte zukommt. Die kommende Sitzung, die den theoretischen Voraussetzungen der Veranstaltung nachgehen soll, wird deshalb noch einmal bei diesem Thema ansetzen.
2. Mittelalterrezeption:
Die Diskussion um die Rückkehr zum bzw. die Wiederbegegnung mit dem Mittelalter führte auf verschiedene Bereiche der Mittelalterrezeption: erstens die Beschäftigung mit historischen Zeugnissen wie Burgen, mittelalterlichen Texten oder auch Redewendungen, die auf das Mittelalter zurückgehen; zweitens ein Wiederauflebenlassen des Mittelalters in Reenactments, Ritterspielen, Mittelaltermärkten usw.; drittens die spielerisch-künstlerische Rezeption des Mittelalters (seiner Geschichte, seiner Stoffe, seines Flairs) in Filmen, Serien, LARP, Computerspielen usw. In diesem Kontext wurde auch die Frage nach verschiedenen Mittelalterbildern und, eng damit verbunden, nach der Bewertung des Mittelalters („finsteres Mittelalter“ vs. „Sehnsuchtsort Mittelalter“) aufgeworfen. Fragen wie diese werden uns in der übernächsten Sitzung beschäftigen, bevor wir uns dann konkret den einzelnen Formaten zuwenden.
Literatur:
de Vries, Jan: Die Sage von Wolfdietrich (1958), in: Ders.: Kleine Schriften, Berlin 1965, S. 37-53.


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