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Über den Wolken

Dritte Sitzung: Neomedievalism

  • justinvollmann
  • 25. Nov. 2021
  • 3 Min. Lesezeit

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Eigentlich geht es in dieser Veranstaltung nicht primär um Mittelalterrezeption, sondern um strukturelle Parallelen zwischen den unfesten Formaten des Mittelalters und der modernen Popkultur. Auffällig häufig gehen diese strukturellen Parallelen aber mit (mehr oder weniger vagen) inhaltlichen Bezugnahmen einher, die im Fokus der dritten Sitzung standen. Es ging dabei um das Mittelalter selbst, vor allem aber um die Rezeption des Mittelalters in den nachfolgenden Epochen. Konkreter Aufhänger waren die verschiedenen Bedeutungen des Adjektivs „gotisch“ bzw. „gothic“.


Grundsätzlich lässt sich die Geschichte des Abendlandes in vier Großepochen einteilen (bei allen Problemen, die solchen Einteilungen natürlich immer anhaften). Daraus ergeben sich drei Epochenschwellen, bei denen ich angesetzt habe:


1) Antike --> Mittelalter (um 500). Wichtigstes Datum: Untergang des weströmischen Reichs (476). Zeit der Völkerwanderung (4.-6. Jhd.): Migrationsbewegungen vorwiegend germanischer Volksstämme, hier auch die Goten aktiv (488 Eroberung Italiens durch die Ostgoten, ca. 550 Zerfall des ostgotischen Reichs).


2) Mittelalter --> Frühe Neuzeit (um 1500). Wichtige Eckdaten: Erfindung des Buchdrucks (ca. 1450), Entdeckung Amerikas (1492), Beginn der Reformation (1517). Zeit der Renaissance: Der Mensch soll im Mittelpunkt stehen und sich unter Rückgriff auf die Antike aus den religiösen und sonstigen Fesseln des „finsteren“ Mittelalters befreien. Giorgio Vasari bezeichnet den mittelalterlichen Kunststil abwertend als „gotisch“ (= barbarisch), woraus sich später die neutrale Bezeichnung für den Architekturstil der Gotik (ca. 1150-1500) ergibt.


3) Frühe Neuzeit --> Moderne (um 1800). Wichtigstes Datum: die Französische Revolution (1789), die mit der Abschaffung der mittelalterlichen Ständegesellschaft in gewisser Weise das Projekt der Aufklärung vollendet (dann allerdings vorübergehend in eine Terrorherrschaft kippt). Gleichzeitig setzt mit der Romantik eine Art Gegenbewegung ein, die unter Abwendung von der Antike und unter erneuter Rückbesinnung auf das Mittelalter die von der Aufklärung tendenziell verdrängte „Nachtseite“ (geheime Ängste und Begierden, Verbrechen, Träume, Tod, Übersinnliches, Fantastisches) thematisiert und aufwertet. In England bildet sich in diesem Zusammenhang das Genre der Gothic Novel heraus, das noch für die heutige Gothic Culture einen wichtigen Bezugspunkt darstellt.


Die wichtige Scharnierfunktion, die der Romantik für die moderne Fantastik (Fantasy, Horror, Science Fiction) zukommt, lässt sich brennpunktartig an der Zusammenkunft der englischen Romantiker Lord Byron, Percy Shelley, Mary Shelley etc. in einer Villa am Genfersee im Jahr 1816 zeigen, aus der sowohl der Roman Frankenstein von Mary Shelley als auch die erste Vampirerzählung der Weltliteratur von John Polidori hervorgegangen sind. Einen sehenswerten Film über diese Zusammenkunft hat Ken Russell im Jahr 1986 unter dem Titel Gothic herausgebracht, hier der deutsche Trailer:



Den bewusst ahistorischen, epochen- und mythenmixenden, das Irrationale betonenden, am Archetypischen interessierten, zuweilen hyperrealistischen, aber auch dem Sinnlichen zugewandten, hybriden Zugriff der Fantastik bzw. der Fantasy auf das Mittelalter hat man unter dem Begriff des Neomedievalism zusammengefasst. Lesenswert ist hier Velten 2018, der sieben Aspekte des Neomedievalism voneinander unterscheidet.


Was am Ende der Sitzung keinen Platz mehr hatte, war die Doppelverwendung des Terminus Neomedievalism im mediävistischen und im politikwissenschaftlichen Kontext. Einen guten Überblick bietet hier der englische Wikipedia-Artikel zum Neomedievalism.


Zur mediävistischen Verwendung verweise ich nochmals auf die Sitzung und auf Velten 2018. Hinter der politikwissenschaftlichen Verwendung steht die Idee, dass die politische Ordnung der globalisierten Welt Analogien zu derjenigen des europäischen Hochmittelalters aufweist: Gab es damals noch keine Nationalstaaten, so haben diese heute nicht mehr die einstige Bedeutung; stattdessen interagieren damals wie heute verschiedene Akteure (Fürstentümer, Kaiserreich, Kirche; Staaten, Konzerne, Stiftungen, NGOs) miteinander, deren Einflussbereiche sich auf komplexe Weise überlagern – unfeste Formate also auch auf politischer Ebene.


Wurde dies zunächst durchaus positiv als Alternative zu einer Weltregierung gewertet, so werden in jüngerer Zeit zunehmend die Kehrseiten des politischen Neomedievalism betont, wie sie sich etwa in neofeudalistischen Strukturen und in Formen des Durchregierens zeigen, durch welche die Demokratie weltweit unter Druck gerät.


Vielleicht muss man tatsächlich beide Verwendungsweisen des Begriffs Neomedievalism – den mediävistischen und den politikwissenschaftlichen – zusammendenken? Vielleicht ist es kein Zufall, dass Game of Thrones DIE Serie der Trump-Ära war, auf die Trump auch wiederholt Bezug genommen hat („The Wall Is Coming“, „Sanctions Are Coming“)? Spannende Frage, finde ich.


Literatur:

  • Vasari, Giorgio: Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister von Cimabue bis zum Jahre 1567 (11550, 21568), hg. v. Ludwig Schorn u. Ernst Förster, 6 Bde., Tübingen, Stuttgart 1832-1849.

  • Velten, Hans Rudolf: Das populäre Mittelalter im Fantasyroman – Erkundungen eines zeitgenössischen Phänomens. Einführung in den Band, in: Die Literatur des Mittelalters im Fantasyroman, hg. v. Nathanael Busch u. Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2018, S. 9-20.

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