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Über den Wolken

Der Pfaffe Amis und Monsieur Oscar

  • justinvollmann
  • 8. Mai 2022
  • 3 Min. Lesezeit

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Der Pfaffe Amis, Protagonist des gleichnamigen Schwankromans des Strickers, beginnt als Priester und endet als Abt, dazwischen ist er in insgesamt elf lose aufeinanderfolgenden Episoden als Prediger, Maler, Arzt, Heiliger, Bauer und Kaufmann unterwegs, ferner zwingt er einen Maurer in die Rolle eines Bischofs und einen Edelsteinhändler in die Rolle eines Wahnsinnigen.


Monsieur Oscar, Protagonist des Films Holy Motors von Leos Carax, beginnt als Banker und endet in einer Schimpansen-WG (bis auf Weiteres), dazwischen ist er in insgesamt neun lose aufeinanderfolgenden Episoden als Bettlerin, Motion-Capture-Darsteller, Monster, Vater einer vierzehnjährigen Tochter, Akkordeonspieler, Mörder, Ermordeter, Sterbender und tragisch Liebender unterwegs.


So ähnlich die Handlungsstruktur der beiden Werke, so unterschiedlich scheint zunächst das Thema. Während die diversen Verkleidungen des Pfaffen Amis stets im Dienst von Lug und Trug stehen, stellt Holy Motors sehr viel grundsätzlicher die Frage nach der menschlichen Identität: Wer ist Monsieur Oscar? Ist er mehr als nur die Summe all der Maskeraden, die durch seinen zunehmend lädierten Körper notdürftig zusammengehalten werden?


Und: Sind wir nicht alle irgendwie Monsieur Oscar? Ein Bündel weitgehend unzusammenhängender Rollen, die am Ende vielleicht ein Leben, aber keine wirklich kohärente Geschichte ergeben? Von hier aus lässt sich dann auch der mittelalterliche Text noch einmal neu in den Blick nehmen: Ist nicht am Ende auch der Pfaffe Amis irgendwie Monsieur Oscar?


Jedenfalls verkleidet er sich nicht, wie viele andere Helden, zu dem Zweck, seine wahre Identität zu verbergen, sondern seinen Aktionsradius und damit seinen Gewinn zu maximieren. Der Pfaffe Amis dissimuliert nicht, er simuliert. Wer dissimuliert (also so tut, als ob nicht), der hat bereits eine Identität, die er aus diesem oder jenem Grund verbergen will. Wer dagegen simuliert (also so tut, als ob), hat eine solche Identität womöglich nie besessen.


Sowohl der Pfaffe Amis als auch Monsieur Oscar handeln mit Simulationen – und werden so zu Spiegelfiguren des Künstlers: ganz deutlich im Fall Monsieur Oscars, der nicht nur ein Alter Ego des Regisseurs Leos Carax, sondern auch des Hauptdarstellers Denis Lavant ist und dem die weiße Stretchlimousine, die ihn von Schauplatz zu Schauplatz fährt, gleichzeitig als mobile Künstlergarderobe dient.


Stretchlimousinen gab es im Mittelalter noch nicht – so genannte fahrende Dichter aber schon, die von Hof zu Hof, von Stadt zu Stadt zogen, um gegen Bezahlung ihre Werke zum Besten zu geben. Dass der Stricker einer von ihnen gewesen sein könnte, darauf deutet nicht zuletzt sein Name – ein sprechender Name vermutlich, wie ihn sich fahrende Dichter zuzulegen pflegten.


Umso näher liegt es, im Pfaffen Amis, dem mit Simulationen handelnden fahrenden Kleriker, eine Spiegelfigur des Strickers zu erblicken. Beide, Monsieur Oscar wie der Pfaffe Amis, sind Fahrende, deren Identität sich auf diverse Rollen verteilt – und die gerade dadurch zu Prototypen eines Künstlertums avancieren, das festgefahrene gesellschaftliche Normen in Frage stellt. Dafür steht der Stricker, und dafür steht Leos Carax.


Hat man diese Verbindung erst einmal hergestellt, dann fällt es schwer, bei den unsichtbaren Bildern des Pfaffen Amis (deren Funktionsweise derjenigen von des Kaisers neuen Kleidern bei H. C. Andersen entspricht) nicht an den Prolog aus Holy Motors zu denken, in dem der blinde Regisseur frisch aus dem Bett auf die Empore eines Kinosaals gelangt, in dem ein schlafendes Publikum der Vorführung eines Films beiwohnt.


Simulationen von Simulationen. Im Epilog ein Parkhaus voller Limousinen, die sich, kaum sind sie unter sich, miteinander zu unterhalten beginnen. Holy Motors eben, heilige Beweger. Klar: Es geht um bewegte Bilder, um das Ende der Stummfilm-Ära vielleicht. Die Kameras, beklagt sich Monsieur Oscar einmal, sind immer kleiner geworden, jetzt sind sie überall. Keine Limousinen mehr, keine Holy Motors. Nur noch gefakte Heiligkeit, wie beim Stricker.

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