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Über den Wolken

Der Pfaffe Amis und die Musicalverfilmung Chicago

  • justinvollmann
  • 30. Apr. 2022
  • 3 Min. Lesezeit

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„Sol ich des iemen triegen, / sô müezt ir mit mir liegen", lässt Wolfram von Eschenbach seinen Erzähler mit Blick auf die Tischlein-deck-dich-Funktion des heiligen Grals verlauten (Parzival 238,11f.). „Wenn ich in dieser Sache jemanden betrügen soll, dann müsst ihr mit mir lügen“: Eine ähnliche Logik verbindet die Musicalverfilmung Chicago mit zwei Episoden aus dem Pfaffen Amis des Strickers. Dieser Logik soll im Folgenden genauer nachgegangen werden. Ich beginne mit der Musicalverfilmung.


In einer spektakulären Gerichtsshow erwirkt ein trickreicher Anwalt den Freispruch einer Mörderin, die am Ende eine nicht minder spektakuläre Musicalshow über ihre eigene Geschichte startet (sehr verkürzt zusammengefasst). Konstitutiv für das Gelingen beider Shows – der Gerichtsshow wie der Musicalshow – ist ein unausgesprochener Deal mit der Presse bzw. mit dem Publikum, das die ihm präsentierte Scheinwelt zwar als solche durchschaut, um des eigenen Vorteils willen aber mitspielt.


Damit noch nicht genug, geht der Film nun so vor, dass er die Geschichte des Mordes, der Verhaftung und des Freispruchs einerseits in vergleichsweise „realistischen“ Filmszenen erzählt, die er aber andererseits mit den korrespondierenden „unrealistischen“ Musicalszenen so gegenschneidet, dass die Diskrepanz von Sein und Schein – eine Diskrepanz, die die Gerichtsshow und die Musicalshow eher implizit prägt – im Film selbst zum beherrschenden Thema wird.


D.h. der Film lebt nicht nur selbst von dieser Diskrepanz, er führt sie dem Zuschauer auch vor Augen (besonders krass in einer Hinrichtungsszene, die im Musical als Zaubertrick verkauft wird). Auf diese Weise wird der Zuschauer sozusagen doppelt betrogen: nicht nur durch die Scheinwelt, auf die sich einzulassen er williglich bereit ist, sondern auch um diese Scheinwelt, die immer wieder als solche entlarvt wird – wenn auch natürlich nur im Rahmen der umfassenderen Scheinwelt des Films.


Zwei Dinge will ich an dieser Stelle festhalten: erstens die Komplizenschaft der Betrogenen mit dem Betrüger. Zweitens die Struktur des Kunstwerks im Kunstwerk, hier des Musicals im Film, die der Reflexion der Sein-Schein-Thematik dient (und die innerhalb des Musicals noch einmal gespiegelt wird, wenn der trickreiche Anwalt in einer Szene als Puppenspieler dargestellt wird). Beide Punkte scheinen im Pfaffen Amis auf zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Episoden verteilt zu sein: die Kirchweihpredigt-Episode und die Episode mit den unsichtbaren Bildern.


Zunächst zur Kirchweihpredigt. Indem der Pfaffe Amis – hier in seiner Rolle als fahrender Prediger – vorgibt, nur die Spenden treuer Ehefrauen anzunehmen, macht er sich gerade die untreuen zu Komplizinnen, die das rasch durchschaute Spiel nicht etwa auffliegen lassen, sondern die Chance nutzen, sich durch wiederholte Spenden umso nachhaltiger vom Verdacht der ehelichen Untreue reinzuwaschen. Die Nummer wird ein solcher Erfolg, dass der Pfaffe Amis sie in unzähligen Kirchen wiederholen muss und bald schon wie ein Gott verehrt wird (Jesus und die Ehebrecherin lassen grüßen).


Ähnlich gelagert scheinen die Dinge zunächst in der Folgeepisode, in welcher der Pfaffe Amis vorgibt, nur ehelich Geborene könnten seine Bilder sehen. Hier bricht sich dann zwar die Erkenntnis Bahn, dass die betreffenden Bilder gar nicht existieren. Die Struktur des Kunstwerks im Kunstwerk – hier der Bilder in der Erzählung – indessen ermöglicht, ähnlich wie in Chicago, eine Reflexion des Verhältnisses zwischen Sein und Schein. Arbeitet nicht auch der höfische Dichter mit imaginären Bildern, getreu dem Motto: „Sol ich des iemen triegen, / sô müezt ir mit mir liegen"?


Der Vergleich der beiden Stricker-Episoden mit der Musicalverfilmung zeigt die Langlebigkeit der durch das Wolfram-Zitat umrissenen Punkte: erstens der Komplizenschaft der Betrogenen mit dem Betrüger, zweitens des eminent poetologischen Potenzials dieser Konstellation. Man kann das als Fiktionalitätskontrakt, als willing suspension of disbelief deuten. Gerade im Fall des Strickers kann man sich aber auch fragen, ob hier nicht eine Kritik am höfischen Roman mit all seinen Wunderdingen und imaginären Bildern laut wird.

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